7. Oktober 1955 - Heimkehr der Zehntausend

„Heimkehr der 10.000“. Am 12. September 1955 fuhr Bundeskanzler Konrad Adenauer nach Moskau, um mit der sowjetischen Führung um Nikita Chruschtschow und Nikolai Bulganin über die Entlassung der noch in der Sowjetunion verbliebenen deutschen Kriegsgefangenen zu verhandeln – die Stalin von den Westalliierten halbherzig als Arbeitskräfte zugestanden worden waren, um das zerstörte Land wieder mit aufzubauen. Am 7. Oktober 1955 kehrten die ersten nach Hause zurück.

 

 Bildnachweis: eigenes Archiv. Brücke über den Gumista-Fluss in Abchasien, über den die Bahnstrecke Moskau-Suchumi führt. An der Brücke fand sich noch 1998 eine Plakette, auf der stand: „Diese Brücke wurde von deutschen Gefangenen gebaut – nie wieder Krieg!“ Solche Gedenkplaketten habe man an vielen sowjetischen Gebäuden finden können.

Nach der Haager Landkriegsordnung von 1907 und des dritten Genfer Abkommens von 1949 waren Kriegsgefangene nach Beendigung der Kampfhandlungen zu entlassen und so war 1946 der größte Teil der Gefangenen der Westalliierten wieder frei.

 

In Österreich ermöglichte die Repatriierung der nach dort verschleppten Zwangsarbeiter_innen – die allerdings in der Heimat nicht willkommen waren, und zum großen Teil als Verräter_Innen sofort in den Gulag gesteckt wurden – schon früher die Rückkehr der kriegsgefangenen Soldaten, die in Gefangenschaft nicht als Angehörige der Deutschen Wehrmacht, sondern als Österreicher behandelt wurden. An sie waren in einigen Lagern Armbinden oder Kokarden verteilt worden, da gemäß Moskauer Deklaration die Wiederherstellung Österreichs als souveräner Staat vorgesehen war und man ihnen damit signalisierte, dass man zwischen ihnen und den Deutschen unterscheiden wollte.

 

Sowohl Deutsche als auch Österreicher werden bei ihrer Heimkehr – im Gegensatz zu denen, die auch jetzt nicht willkommen sind, z.B. zurückkehrende Juden und Jüdinnen – offiziell als Opfer betrachtet, die jede Hilfe verdienen: In Österreich werden die ersten Transporte im – Umsteige-Bahnhof Wiener Neustadt von einer jubelnden Menschenmenge begrüßt und Politiker verteilten Pakete. Im Bahnhof von Friedland drückte man den Heimkehrern z.B. von einer Brennerei gesponserte Schnapsflaschen in die Hand, auf deren Geschenkanhänger stand, sie hätten ehrenvoll gekämpft und das deutsche Volk sei ihnen dankbar.

 

1953, unmittelbar nach Stalins Tod, lässt die Sowjetunion fast eine Million Kriegsgefangene, von denen viele zuvor – viele mit gefakten Anschuldigungen und „Beweisen“, viele auch zu Recht – als Kriegsverbrecher verurteilt worden waren. So befinden sich in einem wiederum in Wiener Neustadt ankommenden Zug - der mit vielen rot-weiß-roten Flaggen dekoriert ist – viele Angehörige der Waffen-SS, die von der ersten Garde der Politiker Österreichs begrüßt werden.

 

Ikonen jener Rückkehr-Inszenierungen in beiden Staaten waren nicht nur die wieder vereinten Familien, sondern auch die Frauen und Mütter, die weinend die Bilder oder Plakate ihrer Söhne und Männer hochhielten und gesenkten Kopfes davontrotteten, wenn klar war, daß ihr Angehöriger nicht bei den Heimkehrern war.

Die Heimkehr der Kriegsgefangenen war in zwei der drei Nachfolgestaaten von „Großdeutschland“ ein zentrales politisches Thema, im dritten Nachfolgestaat, der DDR wurde sie totgeschwiegen und die Heimkehrer zum Schweigen über ihre Erfahrungen beim „Waffenbruder“ vergattert.

 

Allerdings wurden nach Rückkehr in der Heimat bei den Erinnerungen und Gefühlen der Gefangenen kräftig "nachgebessert": ja, die deutschen Kriegs- und auch Zivilgefangenen hatten in der UdSSR hungern müssen, bloß: die Zivilbwevölkerung hungerte auch. Doch dieses "wir mussten beim Russen hungern" radierte in der kollektiven Erinnerung aus, daß in deutscher Gefangenschaft 3,5 Millionen Rotarmisten - zum größten Teil - verhungert sind. Ein klassischer Fall von Täter-Opfer Umkehr!

Ein weiteres Beispiel: in der Erinnerung meines Vaters - ich habe dafür allerdings keine Quelle gefunden - habe es auch eine Vereinbarung gegeben, daß nicht, wie in der Genfer Konvention festgesetzt, der "Gewahrsamsstaat", also die UdSSR - die Arbeitsentschädigung zu bezahlen hätte, sondern der Heimatstaat. Die Sowjets hätten ihnen immer gesagt, die stünde ihnen zu, denn sie trügen mit ihrer Arbeit ja Deutschlands Schuld ab. Allerdings habe er für seine Arbeit ein Taschengeld bekommen. Zurück zu Hause habe er dann diese Arbeitsentschädigung beantragt und bekommen: 1500,-- DM für fünf Jahre und vier Monate Zwangsarbeit. 1949 zehn Monatsgehälter einer Sekretärin. Er habe sich so gedemütigt gefühlt, daß er der Behörde am liebsten das Geld vor die Füße geschmissen hätte. Er habe sich von den Sowjets betrogen gefühlt! Was erst ich ihm gesagt habe: er habe eben nicht das Geld bekommen, das ein deutschen Stabsfeldwebel zugestanden habe, sondern - Gleichbehandlung mit den dienstgradgleichen Soldaten der Gewahrsamsmacht - das, was einem sowjetischen vergleichbaren Feldwebeldienstgrad damals zustand, alles vollkommen korrekt... Das alles bestimmte im sich entwickelnden Kalten Krieg die weitere Einstellung gegenüber der Sowjetunion.

Und was die angeblich rechtswidrige längere "Zurückhaltung" der deutschen Gefangenen betraf: Stalin hatte genau das von den Westalliierten gefordert und bekommen. Ich finde daran nichts auszusetzen!

 

1955 gewann Österreich mit dem am 15. Mai unterschriebenen Staatsvertrag  seine volle Souveränität zurück und die letzten Österreicher kamen nach Hause.

 

Am 21. August 1955 fand ein Freundschaftsspiel zwischen der deutschen und der sowjetischen Fußball-Nationalmannschaft statt, das die sowjetische Mannschaft 3:2 gewann. Von Politik und Gefangenen wurde das als positives Signal gewertet. Zu Recht.

 

Am 12. September 1955 fliegt Adenauer mit einer Delegation nach Moskau. Zunächst laufen die Gespräche schlecht, und den draußen wartenden Journalisten wird von Außenminister von Brentano schon das Scheitern verkündet. Ein Wodkagelage, auf das die deutsche Delegation vom auch hier unvermeidlichen und nützlichen Kanzleramtschef Hans Globke mit kollektiver Verabreichung von Olivenöl vorbereitet worden war, und ein Abend im Bolschoi-Theater bringt die Wende: Nach der Abschluß-Szene des Balletts Romeo und Julia, als sich die Väter der Toten über den Leichen ihrer Kinder in die Arme fallen, erheben sich Adenauer und Bulganin und man sieht eine ähnliche Geste: über den Gräbern ihrer Kinder versöhnen sich die Völker. Die Sowjets werden die Gefangenen freilassen und können im Gegenzug dafür diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik aufnehmen.

 

Am 7. Oktober 1955 werden die ersten 600 freigelassen. Wie wesentlich und emotional das Thema für die meisten Deutschen ist, sieht man auf einem Photo/Filmausschnitt, der für die junge Bundesrepublik zur Ikone wird: eine alte Frau, vermutlich die Mutter eines Gefangenen, küsst Adenauer die Hand. Den Deutschen gilt die Heimholung der Gefangenen bis heute als Adenauers größte politische Leistung.

 

Der Fernseh-Mehrteiler „So weit die Füße tragen“, der die Flucht eines deutschen Offiziers von Kap Deschnjow, dem nordöstlichsten Punkt der Sowjetunion, 82 km – über die Behringstraße – von Alaska entfernt, bis nach Täbris/Iran flieht, darstellt, ist der erste „Straßenfeger“. Der Held, Clemens Forell, war so, wie man die Wehrmachtssoldaten samt und sonders gerne sehen wollte: gradlinig, unbeugsam, sich mit Unrecht nicht abfindend. So waren sie alle – in den Anti-Kriegs-Filmen und –Erzählungen der damaligen Zeit.

 

 

 

Dieses Bild wird erst von der, Jahrzehnte später eröffneten, „Wehrmachtsausstellung“ ge- aber noch nicht zerstört.