02. November 2004 - Theo van Gogh ermordet

Der Filmregisseur Theo van Gogh, ein Großneffe des Malers Vincent van Gogh, wird auf offener Straße von einem marokkanischstämmigen Jugendlichen erstochen.

1995 steht van Gogh wegen seiner antisemitischen Äusserungen im Mittelpunkt einer Kontroverse.

„Es ist kein Zweifel mehr möglich.Theo van Gogh ist ein Antisemit, und nicht nur einfach so, sondern er ist ein Antisemit der ordinärsten Sorte. Er setzt in seinem pubertären Schreibstil immer wieder alle Klischees über Juden in immer wieder anderen Worten ein ... er ist und bleibt ein Antisemit reinsten Wassers. Wenn Theo van Gogh kein Antisemit ist, gibt es keinen Antisemitismus mehr und wir können das Wort aus unserem Wörterbuch streichen."

 

Ein "islamkritischer Film" und seine Wirkung

 

Gleich vorweg:

Ein Mord ist niemals auch nur annähernd gut zu heißen, zu entschuldigen und auch nur zu „erklären“. Der Täter, Mohammed B., verbüßt wegen des Mordes zu Recht eine lebenslange Freiheitsstrafe. Doch sein Schicksal macht den Antisemiten van Gogh weder zum unantastbaren Heiligen noch zum Kronzeugen einer emanzipatorischen Religionskritik.

 

Van Gogh wurde, nach Aussagen seines Mörders, wegen eines islam-„kritischen“ Films mit dem Titel „Submission“ (Unterwerfung), den er mit der damaligen Parlamentarierin und extrem gehypten Islam-„Kritikerin“ Ayaan Hirsi Ali zusammen realisiert hatte, umgebracht. Mohammed B. hatte, vermutlich deswegen, am Körper von van Gogh einen an Hirsi Ali gerichteten Drohbrief angebracht.

 

Als sicherlich für manche nicht unerwartete Nebenwirkung des Films kommt es nicht nur zu Brandanschlägen auf Moscheen, muslimische Kindergärten und Schulen, sondern auch zu einer breiten Diskussion über das „multiculturele samenleving“, die multikulturelle Gesellschaft, bei der von der vielgerühmten niederländischen Toleranz einiges ganz erheblich abbröckelt. Von dieser Diskussion profitiert der Rechtspopulist Geert Wilders erheblich.

 

Über die Toten nur Gutes?

 

Jeder, der Intellektuellen, die in den Niederlanden etwas zu sagen hatten, oder das zumindest meinte, verfährt nach dem Motto „de mortuis nihil nisi bene“. Ja, er sei immer ein Provokateur gewesen, ja, manchmal sei es auch über gewisse Grenzen hinausgegangen, aber als Regisseur sei er ein ganz feiner, ruhiger Mensch gewesen, und es gehe ja hier auch um Meinungsfreiheit. Und sogar die, die von ihm angegriffen worden waren, sehen jetzt öffentlich seine Vorteile und Verdienste, wie der jüdisch-niederländische Autor Leon de Winter, dessen Familie viele Mitglieder in der Shoa verloren hat. So sagte er in einem Interview,

 

"Die Toleranz verteidigen"

 

mit der „Jungle World“, das von dem jüdischen Portal „haGalil“ am 17.11. 2004 übernommen wird, van Gogh sei es immer um die Verteidigung der Meinungsfreiheit gegangen, um die Verteidigung eines „toleranten Konsens“. In dem Schreiben des Mörders zu lesende Angriffe gegen Israel geben auch die thematische Richtung des Interviews in weiten Teilen vor: den „islamischen Antisemitismus“.

 

Damit setzt sich am 18. 11. 2004 ein Artikel von Susanne Bressan, "Was ,Israelkritik' und ,Islamkritik' gemeinsam haben" auseinander, dem sie eine ausführliche Presseschau anfügt. 

 

Mit "Islamkritik" alles entschuldigt?

 

Bressan schreibt:


„Auch wenn die Kritik an Israel auf deutschsprachigen Internetseiten, in Presse und Rundfunk fraglos dominiert – seit dem Mord am niederländischen Regisseur Theo van Gogh bekommt sie ernsthafte Konkurrenz. Quer durch die Medienlandschaft waren sich Journalisten schnell darin einig, in dem Filmkünstler und Kolumnisten einen "Islamkritiker" zu sehen.“

 

Und weiter:

 

„Ebenso, wie sich hinter der Formulierung, es müsse doch erlaubt sein, Israel zu kritisieren, zumeist ganz andere Motive erkennen lassen, wird "Islamkritik" nicht immer in einem Zusammenhang verwendet, in dem es um die Auseinandersetzung mit einer Religion geht.“ … Unter dem Etikett "Islamkritik" erfahren auch Theo van Goghs Diffamierungen gegenüber Muslimen und anderen Minderheiten, die er außerhalb seines filmischen Schaffens äußerte, eine erstaunliche Verharmlosung, ja sogar Aufwertung ...“

 

Der entscheidende Satz:

 

Doch ist die Tendenz, in Zusammenhang mit den Begriffen "Meinungsfreiheit" und "demokratische Werte" auf diffamierende Stereotype und rechtspopulistische Argumentationsmuster zu rekurrieren, um positive Eigenschaften des Ermordeten und/oder demokratische Werte zu unterstreichen, so häufig und so lang anhaltend, dass man darin ein grundlegendes Muster vermuten muss.

 

Bressan, deren Artikel heute noch Pflichtlektüre sein sollte, führt die Auseinandersetzung auf ein tradiertes, altes, christlich, lange gegen „die Juden“ angewandtes Denkmuster zurück: „Wir“ gegen die „Anderen“, und kommt zu dem Schluss:

 

„Wenn in der Auseinandersetzung um den Mord an Theo van Gogh "der Islam" (nicht: der Islamismus) als Bedrohung der Toleranz und Offenheit europäischer Einwanderungsgesellschaften dargestellt wird, dann bekräftigt dies die dichotomische Perspektive zwischen dem aufgeklärten (christlichen-säkularen einheimischen) "Wir" und den unaufgeklärten (islamisch-antisäkularen, migrantischen) "Anderen".“


Aktuell ist dieses Muster beim durch die Neue Rechte wiederentdeckten Hitler'schen Kronjuristen Carl Schmitt und im Putinismus zu finden. Nach Schmitt konstituiert sich eine politische Einheit mit ihren Subjekten durch die Feindbestimmung, die politisches Handeln erst ermöglicht. Und Putins jugendliche Prätorianergarde heißt

 "наши - die Unseren" - was impliziert, daß es auch "Nicht-Unsere" gibt, gegen die "die Unseren" dann schon mal gegen Unliebsame in Marsch gesetzt werden.


„Darf die Meinungsfreiheit auch diffamierende und antisemitische Äusserungen schützen?“

 

Diese Debatte, anlässlich des Mordes an ihm, ist der Spiegel einer weitaus heftigeren Debatte, die im „grachtengordel“, einer Metapher für die niederländische Intellektuellenszene, schon 1994/1995 lange geführt wurde und die sich auf einen einzigen Satz verdichten lässt: „Darf die Meinungsfreiheit auch diffamierende und antisemitische Äusserungen schützen?“

 

Eine meinungsstarke Kolumne des Redakteurs Max Arian erscheint am 14. Dezember 1995 in der Weihnachtsnummer des einflussreichen „De Groene Amsterdammer“ mit dem Titel: „De geur van de varkensstal“ (Der Gestank des Saustalls“) in der Arian unter anderm van Goghs Sottise über die jüdische Historikerin Evelien Gans zitiert, „die in ihren feuchten Träumen von Doktor Mengele oft rangenommen wird … - (“… die in haar vochtige dromen vaak een beurt krijgt van dokter Mengele”,). Arian schreibt damals empört über van Gogh: 


„Ich bin immer noch für Meinungsfreiheit und gegen Berufsverbot. Ich würde gerne auf einem angemessenen Niveau reagieren, doch was kann ich anderes schreiben, als daß ich hoffe, daß dieses Ferkel in seiner eigenen Scheiße umkommt? Er hat anscheinend seine Identität gefunden und das nehme ich kotzend zur Kenntnis“.

 

Der pornographische Antisemitismus


Die Amsterdamer jüdische Literaturwissenschaftlerin Solange Leibovici ordnet ihn in einem ebenfalls 1995 im Groene Amsterdammer erschienenen Artikel als modernen Vertreter des "pornographischen Antisemitismus" und Wiedergänger des - in Frankreich verbotenen Antisemiten und Nazi-Kollaborateurs Fernand Céline ein ein und schreibt über ihn:

Der Kolumnist Theo van Gogh
scheint seine Bekanntheit der perversen Geschmacklosigkeit seiner antisemitischen Auslassungen zu verdanken. In einem Pamphlet über den jüdischen Filmemacher Leon de Winter, den er

Messias ohne Kreuz

nannte, denkt van Gogh über zwei kopulierende gelbe Sterne in einer Gaskammer nach. Im Universitätsblatt „Folia“ er die folgende Szene:

Heute abend mal Treblinka, Schätzchen. Worauf die Geliebte ein Stückchen Stacheldraht nimmt, um es um Leons Schniedel zu wickeln.

Über die jüdische Historikerin Evelien Gans, die ihn als Erscheinung in ihrem Buch „Der Neid der Goijim und der Narzissmus der Juden“ analysiert, erzählt er in „Folia“, daß sie

in ihren feuchten Träumen

wohl von Dr. Mengele beglückt werde. Solche Reden haben van Gogh das Image gegeben, er provoziere und breche Tabus.

Van Goghs Auslassungen zeugen von der gleichen Art analer Regression wie die Pamphlete von Celine; seine sado-masochistischen Phantasien rufen Assoziationen mit bekannten Stereotypen vopn Juden hervor. Der

Messias ohne Kreuz

erinnert an den Mann, der eigentlich eine Frau ist und drückt auch einen Kastrationswunsch aus. Das Bild der

kopulierenden gelben Sterne

weist auf den alles beherrschenden, perversen sexuellen Hunger der Juden hin, die selbst in der Gaskammer – der Hölle – ihren Trieben freien Lauf lassen.



In der Phantasie von der Jüdin und dem KZ-Arzt stellt letzterer den Teufel dar, mit dem sie heimlich Sex hat. Damit bestätigt van Gogh ein anderes Stereotyp, nämlich, daß das Opfer durch den Aggressor sexuell erregt wird. Dies ist unter anderem auch das Thema das Films „der Nachtportier“. Und Konzentrationslager scheinen gegenwärtig ein beliebtes Dekor für die Darstellung von SM-Beziehungen in illegalen Pornofilmen und Computerspielen. Das obsessive Wiederholen von Themen, die mit Juden, Gaskammern, Beschneidungen und so weiter zu tun haben, verweist bei van Gogh vermutlich auf für Psychoanalytiker interessante Frustrationen.

         Jede Zeit hat


ihre eigenen imaginären Juden und Ihre eigenen Antisemiten. Van Gogh lebt nicht in den dreissiger Jahren und er sagt andere Dinge als Celine. Er spricht nicht über die „jüdische Verschwörung“ oder „Rassereinheit“. Doch er wirkt an der Banalisierung und Bagatellisierung des sinnlosen Mordes an Millionen Unschuldiger mit. Er kleidet in Worte, was bei vielen lebendig ist: daß die Juden es leicht haben mit einer solchen Vergangenheit, daß darauf zuviel Rücksicht genommen wird, daß das Leid der Shoah fürchterlich übertreiben wird, daß nun mal endlich genug sein muß mit dem Gejammer und daß wir darüber am besten Witze machen. So baut er ganz hervorragend am Mythos von der

Auschwitzlüge.

Es sind nur Worte, doch Worte sind nicht unschuldig.: sie bleiben hängen, Scherze werden weitererzählt, lose Bemerkungen werden wiederholt. Die geschriebenen Worte des Journalisten oder Autors lösen Handlungen aus, sie werden von anderen umgesetzt.


Das einige Menschen der Außenwelt ein doppeltes Gesicht zeigen, ist nur zu bekannt. Doch Persönlichkeiten sind weniger inkohärent, als uns der Postmodernismus glauben machen will. Ein Aspekt von jemandes Leben ist immer mit anderen Elementen verbunden. Daß Celine die "Reise ans Ende der Nacht" schrieb, ist kein Grund, ihm seine anderen Werke zu vergeben. Der Vergleich zwischen Celine und van Gogh ist alleine brauchbar, wenn es um bestimmte Auslassungen geht. Daß er in der Lage ist, ein geschriebenes oder verfllmtes Meisterwerk zu schaffen, muss Theo van Gogh noch beweisen. Vermutlich soll er bloß in die Geschichte eingehen als niederländischer Vertreter des pornographischen Antisemitismus in den achtziger und neunziger Jahren dieses Jahrhunderts. Eine zweifelhafte Ehre.


Der Autor Ari Kuiper bezieht am Januar 1995 am Schluss eines langen Artikels für die renommierte, christliche  Zeitung „Trouw“, „Der Antisemitismus scheint kein Tabu mehr zu sein “, ebenfalls Position:


„Es ist kein Zweifel mehr möglich.Theo van Gogh ist ein Antisemit, und nicht nur einfach so, sondern er ist ein Antisemit der ordinärsten Sorte. Er setzt in seinem pubertären Schreibstil immer wieder alle Klischees über Juden in immer wieder anderen Worten ein. Es ist erstaunlich, daß die letzte Instanz in einem Rechtsstreit ihn freigesprochen hat, wegen Formfehler oder so. Doch Freispruch oder nicht: er ist und bleibt ein Antisemit reinsten Wassers. Wenn Theo van Gogh kein Antisemit ist, gibt es keinen Antisemitismus mehr und wir können das Wort aus unserem Wörterbuch streichen".

 

Über Anne Frank wird von ihm der "Witz" überliefert: Er wolle einen fröhlichen Familienfilm drehen, in dem ein kleines Mädchen während des halben Zweiten Weltkriegs der Gestapo hinterher telefoniere: „Kommt mich holen, mein Tagebuch ist fertig.“ Und dann kämen sie nicht. Ein weiterer "Scherz": "Was riecht denn hier - im KZ - so nach Karamel? Heute verbrennen sie nur jüdische Diabetiker". Außerdem fand er, daß die Juden ihre dunkle Vergangenheit mißbrauchten, und daß man deren "Geseiere" mal ein Ende setzen müsse.

 

Zusammengefasst - wie aktuell in Österreich in der "Causa Susanne Winter": Kratz am Islamkritiker und hervor kommt der Antisemit!