Syrien - ich bin nicht überrascht

Die heutigen russischen Luftangriffe auf die syrische Opposition - und eben nicht - auf den IS konnten nicht überraschen und haben hoffentlich die Gabriels, Steinmeiers, und wie sie alle heissen mögen, auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.

 

Eine Allianz mit Putin zum Kampf gegen den IS kann und wird es nicht geben - denn Putin hatte nie vor, gegen den IS zu kämpfen.

 

Stattdessen hatte er für den Westen eine Falle vorbereitet - und scheint jetzt selber in diese Falle zu tappen.



Keine Überraschung

 

Ich stimme dem, was Richard Herzinger in seinem Artikel "Auf Syriens Trümmern baut Putin sein Protektorat" geschrieben hat, uneingeschränkt zu:

 

"Statt als geläuterter Waffenbruder mit dem Westen in den Krieg gegen den IS ziehen zu wollen, schwebt Moskau und Teheran die Errichtung einer Art russisch-iranischen Protektorats im noch von Assad kontrollierten Teil Syriens vor. Vom islamistischen Chaos im Rest des Landes soll sich der Westen dann schön alleine aufreiben lassen...Putin profitiert bei seinen Schachzügen von der einseitigen westlichen Fixierung auf die Bedrohung durch den IS."

 

Aus meiner Sicht ist diese einseitige Fixierung dadurch begründet, daß in den letzten Jahren vieles gleich durch die islamophobe Brille betrachtet wurde, was eher mit allgemein politischen, sozialen und/oder wirtschaftlichen Begriffen zu erklären gewesen wäre. Und deswegen die von Herzinger ebenfalls wahrgenommene einseitige Fixierung.

 

Daß Putin versuchen würde, dem Westen genau diese Falle zu stellen, war offensichtlich. Dafür hat er in New York geworben, doch sein Ziel nicht erreicht. Der Westen ist nicht in die Falle getappt.


Brandgefährlich


Nicht nur der "Föderationsrat", d.h., die Oberhausdarsteller, sondern auch die Kirche haben der Aktion ihren Segen gegeben und sie als "Heiligen Krieg" bezeichnet. Am orthodoxen Christenwesen soll die Welt genesen, oder so.


Deswegen denke ich, der Westen sollte sich jetzt jeder militärischen Aktion enthalten, sei es ein direktes Eingreifen, wie z.B. das vorgeschlagene Abdrängen russischer Flugzeuge aus dem syrischen Luftraum, sei es sonstige Show of Force. Dazu ist momentan nicht die Zeit, nachdem der richtige Moment verpasst wurde, eine Flugverbotszone zu errichten. Der Westen sollte akzeptieren, im Moment nichts machen zu können. Ich finde das nicht. Alan Posener schreibt:


"...durch ihre bloße Anwesenheit haben Putins Militärs die Optionen des Westens eingeschränkt..."


Das stimmt: der Westen hat fast keine - zur Zeit.



Der Lord-Voldemort-Effekt


Ausserhalb der Putin-Versteher-Medien, seien sie Leit- oder soziale Medien wird Putin oft zum dunklen, magischen Alleskönner. Jemand nannte das den Lord-Voldemort-Effekt, so, als könne ein omnipotenter Putin an jedem Schräubchen drehen - so ganz unrecht haben die Putinisten da mit ihrem Vorwurf der Dämonisierung nicht, obwohl sie ihn aus ganz anderen Gründen erheben: ein Staatsmann, der für alle nur das Beste will und uns alle aus den Klauen der bösen USA befreien. Ich finde diese Dämonisierung aus anderen Gründen problematisch: sie lähmt!


Während einige Medien noch schreiben, Putin habe auf der Vollversammlung der UNO einen Sieg eingefahren, sehe ich das nicht so:



Obama hat eine stärkere Rede abgeliefert, als das viele von ihm erwartet hatten und Putin dabei ganz klar die Grenzen aufgezeigt. Falls Russland da einen Ansatz von Diplomatie probiert hat, ist der mit Sicherheit gescheitert. Vielleicht deswegen auf einmal die Eile mit Syrien?

Angst vor Lord Voldemort führt zu unbedachtem Aktionismus und unbedachter Aktionismus kann in die Katastrophe führen. Der Westen hat jedoch eine Option: erst einmal abzuwarten und sich von Putin nicht die Bedingungen diktieren zu lassen. Es ist gut möglich, daß das für Putin ein zweites Afghanistan wird: er vermeidet zwar zur Zeit, den IS zu konfrontieren, aber dadurch, daß er heute diejenigen bombardiert hat, die wirklich gegen den IS kämpfen, könnte er ihn quasi eingeladen haben, sich weiter nach Westen auszudehnen. Irgendwann könnte er um Bodentruppen nicht herumkommen; ich glaube nicht, daß er vorhat, welche einzusetzen, aber, ich sach' ma',  Lyndon Johnson hatte das in Vietnam auch nicht.


Da ist es nicht, wie Alan Posener schreibt, Zynismus, erstmal die Füße still zu halten, sondern die realistische Einschätzung der aktuellen Lage.


Übrigends sind, wie, Christo Grozev schreibt, in Syrien schon längst Russian boots on the ground, rekrutiert von Girkin-Busenfreundin Olga Kulygina, die auch mit Anna-News Frontmann Marat Musin zusammenarbeitet.  Über Marat Musin bin ich das erste Mal gestolpert, als FAZ Autor Reiner Hermann ganz neutral über ihn schrieb:


"Der russische Journalist Marat Musin, der für die kleine Nachrichtenagentur Anna arbeitet, hatte sich am 25. und 26. Mai in Hula aufgehalten, war teilweise Augenzeuge geworden und hat die Aussagen anderer Augenzeugen veröffentlicht."


Herrmanns weitere Artikel sind dann auch für die Verbreitung der Version des Regimes hilfreich. Überflüssig zu sagen, daß eine Untersuchungskommission der Vereinten Nationen zu einem diametral entgegengesetzten Ergebnis kam.


Mir wurde er als "unabhängig von Putin" angedient. Abchasien und unabhängig...Da konnte man schon längst - überprüfbar! - nachlesen, in welch trüber Suppe Musin fischt. So schwimmen in dieser Suppe jede Menge Antisemiten und Rechtsextremisten - wie Kulygina und Girkin auch.


Aber die Artikel von Musin wurden in der VT- und antiimperialistischen Szene als die Quellen schlechthin herumgereicht.



Was kann man tun?


Dazu habe ich die Karte von Hitlers "Großdeutschland" im Jahr 1942 gepostet - die Gebiete ausserhalb der damaligen Landesgrenzen sind nicht mal auf der Karte. Die Wehrmacht hatte fast ganz Europa erobert - und hat sie es gehalten? Ein militärischer Grundsatz ist nämlich, daß ein Gebiet zwar möglicherweise leicht erobert werden kann, aber schwer zu halten ist. Hitlers Truppen haben das schon sehr bald lernen müssen.




Sehe ich mir übrigens die obige Karte an, wird mir aus militärischer Sicht schon verständlich, warum an dieser Stelle bombardiert wurde: ich vermute, um eine zumindest partielle Einkesselung zu vermeiden, die den Putin/Assad-Truppen nur den Weg übers Meer hinaus aus Syrien gelassen hätte - Dünkirchen 2.0, wenn man so will. Es gibt, und da muß ich unserem Herrn Bundesaussenminister recht geben, keine militärische Lösung, jedenfalls nicht für den Westen. Fürchtet man etwa, daß es Putin gelingen könnte, den IS so einfach auszuknipsen wie er ihn möglicherweise angeknipst hat? Nun, Flaschengeister hat man noch selten in die Flasche zurückbekommen. Man wird warten müssen, bis Putin sich in den eigenen Absichten verfangen hat, so unerträglich das, angesichts der vielen Toten und der vielen Flüchtlinge auch ist.


Die Goldrandlösung habe ich auch nicht, bloß: unreflektierter Aktionismus á la "Wir müssen doch unbedingt den IS bekämpfen" ist keiner. Wir können aber auch hier in Europa etwas tun, und dankenswerterweise hat die französische Regierung heute einen wichtigen Schritt gemacht: die Staatsanwaltschaft in Paris hat ein Verfahren gegen Assad eröffnet, auf der Grundlage der von einem geflüchteten früheren Photographen der syrischen Militärpolizei mitgebrachten Photos, die ab dem 7.Oktober veröffentlicht werden, zunächst für Kindle. Die kurzen Sequenzen, die im heutigen Arte-Journal zu sehen waren, legen nahe, daß das Buch viele Bilder hat und so auch ohne Französischkenntnisse verständlich ist.

 

Und man muss auch ein Konzept entwickeln, der Radikalisierung von Jugendlichen vorzubeugen. Eine solche Radikalisierung kann man nicht essenzialistisch dem Islam zuschreiben: im Dritten Reich landeten sie über die Hitler-Jugend in der SS oder den Einsatzgruppen, in den 70er Jahren in der RAF. Bei letzterer hätte ich auch mal fast angedockt.
Hier in Europa sollte man die Lehren aus z.B. dieser Konferenz in New York ziehen und die jetzt im Netz überbordenden islamophoben Hassgesänge und Verschwörungstheorien auch mal einbremsen, argumentativ, aber notfalls auch mit den Mitteln des Strafrechts.

 

So ein Post wie der der Kölner Juristin Vartian muß straf- und standesrechtlich überprüft werden und zwar öffentlich und für die Muslime in diesem Land deutlich sichtbar. Was Frau Rechtsanwältin Vartian, die auf ihrer Internetpräsenz ausdrücklich ihre türkischen Sprachkenntnisse aufführt - das so beworbene sunnitisch-islamisch-türkische "Pack" wird sich möglicherweise von ihr doch nicht so recht vertreten fühlen -  auch immer zu ihrem Ausfall bewogen haben mag: sie ist Juristin, ein "Organ der Rechtspflege". Von einem  Lutz Bachmann, der sich auch auf fb über "Dreck", "Pack" und "Viehzeug" ausließ, erwarte ich nichts anderes. Von einer Juristin schon. Und wenn es für Frau Rechtsanwältin Vartian - "Wir finden Wege zu Ihrem Recht" - der ganze sunnitische Islam "Pack" ist, wo soll sich denn ein selbstunsicherer Jugendlicher noch finden? Darüber, wie soziale Konflikte ethnisiert werden, werde ich an anderer Stelle noch schreiben. Der Weg zum Recht für die jungen Muslim*innen sollte allerdings gefunden werden, wenn auch nicht von Leuten wie ihr.

 

Wie dem IS die jungen Kämpfer zuströmen, beschreibt der oben verlinkte Artikel aus der Süddeutschen:

 

"Yousef Assidiq wurde von einem Islamisten umarmt, vom Rest der Gesellschaft in Norwegen verachtet. So fasst er die Geschichte seiner Radikalisierung zusammen. Er ist Gast auf dem Global Youth Summit, einer Konferenz in New York. Assidiq ist einer von mehr als 100 Aktivisten, die hier darüber berichten, wie sie junge Menschen davon abbringen, sich Terrorgruppen wie dem Islamischen Staat (IS) oder gewalttätigen Gangs anzuschließen.

"Eine Woche nachdem ich zum Islam konvertierte, war ich alleine, verstoßen von meinen Freunden und Eltern", sagt Assidiq. Eine ältere Dame habe ihn während einer Busfahrt beschimpft, 2009 war das, die übrigen Passagiere hätten applaudiert. Der Islamist dagegen habe ihm zugehört - und ihn anschließend fanatisieren können. "Ich weiß, wie es ist, Teil einer radikalen Gruppe zu sein. Ich weiß auch, wie man es schafft, sie wieder zu verlassen", sagt der 27-jährige mit dem Rauschebart."

 

Das ist die Aufgabe für unsere Gesellschaft, genau wie die Entwicklung einer Willkommenskultur und echter Lebenschancen für die Geflüchteten.