Der Ziegenficker - ein europäisches Kulturgut?

Der Narrativ vom "Ziegenficker" ist im Zusammenhang mit der Böhmermann-Affäre bis ins Feuilleton und die etablierten Nachrichtenportale eingeschlagen. Es scheint sich um ein Faszinosum zu handeln, da selbst bei sich aufgeklärt wähnenden Medienmensch*innen eine Saite zum Klingen bringt, die man eigentlich nach 1945 in Deutschland überwunden zu haben glaubte: die Sexualisierung des Feindes mittels Griff zwischen die Beine. Und so sagen solche sexualisierten Feindbilder mehr über den aus, der sie transportiert, als über den, den sie angeblich beschreiben.

Bildnachweis: Claudio Lange, Apsis der Kirche San Pedro de Cervatos, Kantabrien. 12. Jh. In diesem phantasierten muslimischen erotischen Kosmos sieht man - dritte Figur von links ... eine Ziege!

 

Christliche Pornographen

Der in Berlin lebende chilenische Künstler und Religionswissenschaftler Claudio Lange hat als Erster über die pornographischen Darstellungen von Muslim*innen an romanischen Kirchen an der Grenze zwischen christlicher und muslimischer Welt zur Zeit der Romanik gearbeitet. Diese Grenze verlief damals durch Europa. Claudio Lange hat überzeugend und faktengesättigt herausgearbeitet, daß solche pornographischen Darstellungen, die nichts anderes waren als sexualisierte und sexualisierende Hetze, zur Aufrechterhaltung des christlichen Wehrwillens für die und zur generellen Rechtfertigung der Kreuzzüge dienten. Die solcherart "verzierten" Kirchen finden sich übrigens mehrheitlich auf dem Jakobsweg. Weitere Literatur ist reichlich in diesem Internetartikel vorhanden, ebenso hat Claudio Lange seine Schlußfolgerungen mit einer großen Menge Bild und Videomaterial dokumentiert. Lange fasst seine Funde wie folgt zusammen:

Es zeichnet sich eine ikonographische Typologie des Feindes im elften Jahrhundert ab, die für die politische und kulturelle Identität des christlichen Europas bis heute von zentraler Bedeutung ist.

Fürwahr! Im Lichte der Böhmermann--Affäre ein prophetischer Satz! Hier ist aus youtube der erste Teil eines sehenswerten Films, der vielleicht schon einige Lichter aufgehen lässt:

Die christliche Pornographie richtete sich parallel auch gegen die Juden. Dieser Diskurs kulminierte in der Figur der Judensau. In diesem, von Wikipedia - zu Recht! - als exzellent klassifizierten Artikel wird die Figur ausführlich erklärt und man findet auch eine Tabelle, die zeigt, daß auch dieses Motiv großzügig zur Verzierung von Kirchen verwandt wurde.

Schon diese Bildwerke geben über das Auskunft, was sowohl in Juden als auch in Muslime von christlicher Seite hineinprojiziert wurde: sexuelle Hemmungslosigkeit und Lust an der Perversion. Nebenbei: das muss auch in die jüdischen und muslimischen religiös begründeten Hygieneregeln hineinprojiziert worden sein: Als 1348 von der Krim eine Pestepidemie ausging, stellten die Christen fest, daß die Pest in den damals schon bestehenden Judenghettos viel weniger Opfer forderte. Das erklärten sie sich natürlich nicht mit den religiös vorgeschriebenen Hygieneregeln. Waschen galt den Christen jener Zeit als erstens suspekt und zweitens anscheinend überbewertet. Deswegen hatten sie für die größere Zahl christlicher Pesttoter nur eine Erklärung: Brunnenvergiftung, was zum Pest-Pogrom von 1349, dessen Ausbreitung räumlich der Ausbreitung der Pest folgte.

 

Bildnachweis: Judensau am Regensburger Dom, Wikipedia, gemeinfrei.

 

Antisemitische Pornographen

Wir machen einen Zeitsprung hin zur Sexualisierung des Judenhasses durch die Nazis und ihre Sypathisanten. Das nebenstehende Bild zeigt eine Szene aus dem berüchtigten Hetzfilm Jud Süß. Jud Süß, gespielt von dem österreichischen Schauspieler Ferdinand Marian, setzt zur Vergewaltigung von Dorothea, der Tochter eines treuen Beamten an. "Entehrt" bringt sich Dorothea danach um. Genau diese Vergewaltigung wird Jud Süß das Genick brechen: das Volk erhebt sich, Jud Süß verliert den Schutz des Herzogs und endet am Galgen.

Da dieser Film exemplarisch über das aufklären soll, was den Juden essenziell eigen ist, ist - im zeitlichen und ideologischen Zusammenhang - nur eine Interpretation möglich: beim - erzwungenen oder erschlichenen - Geschlechtsverkehr hat "der Jude" seinen Spaß, doch die arische Frau ist vernichtet: sie ist so verunreinigt, daß der Freitod die einzig würdevolle Konsequenz ist, da dieser Geschlechtsverkehr so widernatürlich ist - wie der mit einem Tier.

Bildnachweis: Szenenfoto aus Jud Süß. Jud Süß (Ferdinand Marian) setzt zur Vergewaltigung von Dorothea (Kristina Soederbaum) an. Quelle: verschiedene.

Gleich den "orientalistischen" Haremsphantasien des 19. Jahrhunderts standen offenbar auch Jüdinnen im Rufe besonderer erotischer Fähigkeiten: so ließ sich "Reichspropagandaminister" Joseph Goebbels, "Bock von Babelsberg" und auch für die Filmindustrie zuständig, ließ bei Starregisseur Harlan und dessen Gattin, Kristina Soederbaum, als er über das tragische Schicksal des Filmstars Joachim Gottschalk und dessen verfemter, jüdischer Ehefrau sprach, wie folgt aus - und über seine eigenen Phantasien: der sich verzweifelt um seine Ehefrau bemühende Schauspieler sei wohl den besonderen erotischen Fähigkeiten seiner jüdischen "Chonte" (jiddisch für 'Nutte') verfallen.

Bildnachweis: Wikimedia Commons

Doch männliche Sexualität wurde auch von dem pornographischen Antisemiten ernster genommen als weibliche. Und so geht es bei den gesamten Obsessionen immer um die Sexualität des Juden.

Als 1995 in der niederländischen Intellektuellenszene ein Skandal um die massiv antisemitischen Äusserungen des "Filmemachers" Theo van Gogh die niederländische Intellektuellenszene in Wallung brachte, hat sich die niederländische - jüdische! - Literaturwissenschaftlerin Solange Leibovici mit dem pornographischen Antisemitismus und zwei seiner Protagonisten, dem in Frankreich verbotenen Ferdinand Céline und Theo van Gogh auseinandergesetzt.

Bildnachweis: joscollignon/Volkskrant „72 Ziegen?“ – „Ja, wir haben Deinen Mörder auch schon erwartet…“

Der Autor Ari Kuiper bringt die Auseinandersetzung über van Gogh in der christlichen Zeitung Trouw auf den Punkt:

„Es ist kein Zweifel mehr möglich.Theo van Gogh ist ein Antisemit, und nicht nur einfach so, sondern er ist ein Antisemit der ordinärsten Sorte. Er setzt in seinem pubertären Schreibstil immer wieder alle Klischees über Juden in immer wieder anderen Worten ein. Es ist erstaunlich, daß die letzte Instanz in einem Rechtsstreit ihn freigesprochen hat, wegen Formfehler oder so. Doch Freispruch oder nicht: er ist und bleibt ein Antisemit reinsten Wassers. Wenn Theo van Gogh kein Antisemit ist, gibt es keinen Antisemitismus mehr und wir können das Wort aus unserem Wörterbuch streichen".

Und dem Antisemiten Theo van Gogh bleibt es vor behalten, die Phantasie vom Ziegenflicker (nl. geiteneuker) wieder mit Leben zu erfüllen. Und die deutschen, österreichischen und schweizer "Islamkritiker" übersetzten ihn ins Deutsche.

Nicht um Ziegen, sondern um Schafe ging es dem Sohn der in diesem Kontext einschlägig bekannten FPÖ-Abgeordneten Susanne Winter, Michael Winter, und für diesen „Sager“ wurde er auch verurteilt. Seiner Mutter wurde im Rahmen ihres „Verhetzungs“-Prozesses – letztendlich wurde sie auch verurteilt – vorgeworfen, die Einrichtung von „Tierbordellen“ für muslimische Männer gefordert zu haben: „Wir sollten im Stadtpark ein Tierbordell errichten, damit die muslimischen Männer dorthin gehen können und sich nicht an den Mädchen im Stadtpark vergreifen.“ Insgesamt stieß die Tierbeschuldigung in „islamkritischen“ Kreisen auf helles Entzücken und wurde begeistert wiedergekäut.

 

n-tv: Clickbaiting mit gefickter Ziege

Da mochte auch der Nachrichtensender n-tv nicht abseits stehen, klaute einige Fotos bei twitter und  betrieb fast schulmäßiges Clickbaiting mit einem verunstalteten toten Ziegenbaby. In einem Wikipedia-Artikel habe ich eine passende Erklärung, was denn Clickbaiting ist, gefunden:

 

Mit Clickbaiting wird medienkritisch ein Prozess bezeichnet, Inhalte im World Wide Web mit einem Clickbait (deutsch etwa „Klickköder“) anzupreisen. Clickbaits dienen dem Zweck, höhere Zugriffszahlen und damit mehr Werbeeinnahmen durch Internetwerbung zu erzielen.

Ein Clickbait besteht in der Regel aus einer reißerischen Überschrift, die eine sogenannte Neugierlücke (englisch curiosity gap) lässt. Sie teilt dem Leser gerade genügend Informationen mit, um ihn neugierig zu machen, aber nicht ausreichend, um diese Neugier auch zu befriedigen, ähnlich einem Cliffhanger. Die Überschrift kann durch grafische Elemente mit gleicher Funktion ergänzt oder ersetzt werden.

Die hinter einem Clickbait liegenden Artikel sind üblicherweise gut mit Einrichtungen zum schnellen Teilen in sozialen Netzwerken ausgestattet, was die Zugriffszahlen ebenso erhöht.

Unter der Dachzeile "Mensch-Tier-Hybrid?" und der Überschrift: "Ziege gebärt Baby mit "Menschengesicht", wurde zum Anklicken gelockt. Denn schließlich: wenn eine Ziege ein solches "Hybrid" gebiert - aus welcher Gattung kommt denn dann der Vater? Eben.

Im Artikel wird es später dann sachlicher: anscheinend sei das tote Zicklein von der Mutter so zertrampelt worden. Die Schlagzeile "Nach der Geburt durch Mutter zertrampeltes Zicklein" hätte mit Sicherheit keine so hohen Zugriffszahlen generiert. Wohlgemerkt, ein Nachrichtenmagazin...

Da mochte auch das SPIEGEL-Magazin nicht abseits stehen. Nicht ganz so offensichtlich, jedoch in einer Anmoderation verwandte die blonde Moderatorin den Ausdruck: "Ziegenversteher Erdoğan" und - ich glaube - im Stern sah ich eine Karikatur, in der ein Arbeitsvermittler einer offensichtlich arbeitssuchenden Ziege sagt, er habe einen Job bei Erdoğan für sie.

Wie schon gesagt, die Schweiz ist auch dabei und möglicherweise beschränkt sich die angeheizte Phantasie nicht nur auf die deutschsprachigen Länder. Mit dem "Streisand-Effekt" alleine ist das nicht zu erklären.

Im Migazin versucht ein Betroffener, der türkisch(stämmig)e Autor Murat Kayman zu erklären, daß sich diese Entgleisung von Jan Boehmermann, besonders für in Deutschland lebende Türk*innen an eine lange Reihe von Verletzungen und Zurücksetzungen anschließt.

Und die Böhmermann-Nummer hat bewusst oder fahrlässig den deutschen Blick auf das Türkische konzentriert auf den Moment der Verachtung. Sie hat genau jene Saiten angeschlagen, die in der türkischen Seele nach über 50 Jahren Migrationserfahrung schmerzen. Sie wurde verstanden als die dominante Geste des Hausherren, mit der er den ewigen Gast auf seinen Platz verweist.

und weiter:

...auf der Mehmetebene blieb nur der Geschmack des verkrusteten Ressentiments gegen den stinkenden türkischen Sodomisten.

In der medialen Besprechung dieser Inszenierung war sie dann wieder da, die Geste der kulturhierarchischen Belehrung über Kunst und Satire, Freiheit und Demokratie. Das verächtliche Ausspucken wurde uminterpretiert zum kritischen Räuspern.

Ja, die, die jetzt meinen, die pubertäten Sexualphantasien des Jan Böhmermann, die sich einreihen in eine lange Tradition ebensolcher Obsessionen, verteidigen zu müssen, verteidigen ja nicht die Freiheit von Kunst, Satire und Meinung - denn der Böhmermann'sche Erguss war das alles nicht, sondern schlicht mißlungen - sondern vollführen eine Dominanzgeste, auch, wenn weitverbreitet das angebliche "Einknicken" vor dem angeblichen Herrschaftsanspruch von den üblichen Verdächtigen wiederholt und stets laut beklagt wird. Das hat zur Folge, daß die Türk*innen sich von dieser Gesellschaft abwenden. Besser als Murat Kayman kann man es nicht sagen:

Politiker und Medien überbieten sich regelmäßig in der Entrüstung über Erdogan-Sätze zur Assimilation als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie beklagen sich über einen tatsächlichen oder vermeintlichen Einfluss der Türkei auf türkischstämmige Menschen in Deutschland...Dabei merken sie nicht, dass Erdogan nur eine Lücke füllt – und das nicht einmal besonders geschickt. ...

Dafür, dass junge Menschen, deren einzige soziale Realität sich hier in Deutschland abspielt, sich dennoch von dieser Gesellschaft abwenden, ist nicht Erdogan verantwortlich. Das haben wir ganz allein geschafft.

Wir, unsere Gesellschaft sind die Mittelalterlichen, die sich vor den zu bewältigenden Herausforderungen auf mittellalterliche, rassistische Stereotype zurückziehen und nicht merken, wie wir unsere Zukunft verspielen.