Renate Künast, Schüsse, Twitter und Asylbewerber

So langsam drehen jetzt alle durch! Was ist passiert: die Polizei hatte versucht, einen siebzehnjährigen Asylbewerber zu stellen. Der Junge ging auf die Polizisten los und wurde von ihnen erschossen. Soweit die Nachrichtenlage. Frau Künast, gelernte Juristin, setzte den nebenstehenden "irritierenden Tweet" ab und geriet in einen Shiststorm. Von Anfang an alles fröhlich am Thema vorbei, der tweet, der Shitstorm, der ausbrach, bevor gesichert erschien, daß der 17-jährige sich in einem Bekennervideo zum IS bekannte. Ich unterstelle mal, Frau Künast hat sich länger nicht mit dem Problem der Notwehr/des Finalen Rettungsschusses beschäftigt... Es muss nicht jedeR zu allem was sagen...

Bildnachweis: screenshot meedia

 

Häppchenjournalismus

Die - nicht nur - für diese Situation anscheinend passendsten Tweets habe ich schon mal rausgesucht. "Wir müssen berichten", irgendwas wird es schon geben...

Auf diese Häppchenjournalismus antworten dann auch Politker*innen gerne mit Häppchen, und dann ist es anscheinend auch vollkommen egal, daß das möglicherweise von keinerlei Sachverstand getragen ist.

Erstmal: jeder Tatortgucker weiß, daß die von Künast gestellte Frage, ob man jemanden nicht hätte kampfunfähig schießen können, nach jedem tödlichen Einsatz mit Schusswaffen intern ohnehin gestellt wird. Man hätte Einblick in den Untersuchungsbericht fordern können. Das mittels Tweet zu tun und zu einem so frühen Stadium, halte ich für problematisch.

 

Notwehr? Finaler Rettungsschuß?

Laut Wikipedia ist die Dienstwaffe der bayrischen Polizei die Pistole Walther P1 (alt, aber noch im Einsatz), bzw die P7 Heckler und Koch (neu ausgegeben). Beide Waffen schießen mit 9mm-Munition, reißen also richtige Löcher. Dás Modell von Heckler und Koch kenne ich nicht, mit der P1 habe ich schon selber geschossen (mit der P8 auch...). Ich kann Euch verraten, daß es wahnsinnig schwer ist, und einiges an Übung erfordert, mit so einer Waffe das zu treffen, was man treffen will und das erfordert permanente Übung. Bei mir hat selbst die nicht gereicht, über meine Schießergebnisse sei der Mantel des Schweigens gebreitet. Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß die Polizisten, die ja ständig unterbesetzt und überlastet sind, zu wenig Gelegenheit zum Üben haben, und auch, daß die Versuchung, wenn der Schreibtisch überquillt, sehr groß ist, sich mal eben vom Schießen abzumelden. Habe ich, glaube ich, auch schon gemacht.

 

Möglicherweise handelt es sich hier um einen "finalen Rettungsschuß" oder Notwehr? Die juristischen Grundlagen des Finalen Rettungsschusses sind in den Polizeigesetzen der Länder geregelt, z.B.:

 

Ein Schuss, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich wirken wird, ist nur zulässig, wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist. (Hessen) bzw:

 

Ein Schuss, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich wirken wird, ist nur zulässig, wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer unmittelbar bevorstehenden Lebensgefahr oder der unmittelbar bevorstehenden Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist. § 20 Absatz 1 Satz 1 findet im Falle des Satzes 1 keine Anwendung. (Hamburg)

Der Unterschied zwischen den Begriffen Notwehr und "finalem Rettungschuss": ersterer ist allgemeiner.

Die Frage des Kampfunfähig-Schiessens wird kontrovers diskutiert. Es geht, vereinfacht gesagt, um die Frage, die Frau Künast gestellt hat: ist es ausreichend, einen Angreifer kampfunfähig zu schießen. Die, die das verneinen, argumentieren, daß jemand, der nur "angeschossen" ist, und sei es auch in Brust und Bauch, noch genügend Zeit habe, seinen Angriff fortzusetzen und wirksam nur durch einen Kopfschuss daran gehindert werden könne. Die Gegner dieser Auffassung benennen das als "Schein-Sachzwänge".

 

Alternative Taser?

Im Dezember 2008 machte in Österreich FPÖ-Mann Harald Vilimsky Furore, als er sich für die "Kronen"-Zeitung, einer Art BILD auf österreichisch, zusammen mit einem Reporter dieser Zeitung, unter Assistenz von österreichischen Justizbeamten tasern ließ. Ein Jahr zuvor hatten sich sowohl ein britischer Rechtspopulist als auch der Godfather der rechtspopulistischen FPÖ tasern lassen. Erreicht werden sollte in allen Fällen - daraus machte Vilimsky in einem gleichzeitig dokumentierten Interview keinerlei Hehl - die Freigabe des Tasers, den Vilimsky in seinem Interview verharmloste - für Polizei und Justiz. Übrigens hat soll  danach der mit-getaserte Reporter sich danach 2 Wochen stationär untersucht worden sein - zum Ausschluss von Dauerschäden...

Ein paar Tage später stellte Steffen Seibert, damals noch Anchorman des ZDF-heute-Journals, eine Studie von Amnesty International vor, die ausdrücklich vor dem Einsatz des Tasers warnt.

Download
Zusammenfassung der o.a. Studie
http___www.amnesty.ch_de_aktuell_news_20
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Seitdem warnt AI-USA jährlich vor den Gefahren des Tasereinsatzes. bis 2008 waren 334 Menschen durch den Einsatz des Tasers ums Leben gekommen, 2012 schon mehr als 500. Im ZDF-Video ist auch ein Interview mit dem Vorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei zu sehen; mehr als die Hälfte aller deutschen Polizeien haben den Tasereinsatz für sich abgelehnt. Lt. Wendt sollte er Sondereinheiten vorbehalten bleiben, in absoluten Ausnahmesituationen. Das heisst: wenn er einen finalen Rettungsschuß erspart. Der Taser darf nämlich nicht eingesetzt werden.

  • Bei Kindern,
  • bei alten Menschen,
  • bei Schwangeren,
  • bei Leuten unter Stress,
  • bei Leuten unter Alkohol- und Drogeneinfluss,
  • bei Leuten mit Anfallsleiden...

All dies wurde bei Tasereinsätzen in den USA bereits nicht beachtet, siehe das oben eingebettete Bild. Offenbar darauf zielt anscheinend Jakob Augstein ab. Alles richtig, bloß scheint es mir auf die Situation in Würzburg nicht zu passen. Wer diesen Schusswaffengebrauch hinterfragt, sollte eine Alternative parat haben für die Situation im Einsatz. Der Taser ist diese Alternative jedenfalls nicht. Und was es für einen Sinn machen soll, in diesem Zusammenhang auf sicherlich sehr kritikwürdige Einsatztaktiken in den USA und Großbritannien zu rekurrieren, erschließt sich mir nicht.

 

Und jetzt der shitstorm ...

Die Äusserung von Renate Künast kann man nur als problematisch betrachten. Sowas kann man nicht in die 140 Zeichen von Twitter gießen, sondern eine solche Nachfrage, wenn überhaupt, müsste differenzierter kommuniziert werden. In der Talkshow von Sandra Maischberger hat Künast übrigens eingeräumt, daß ihr bekannt ist, daß ihr bekannt war, daß jeder tödliche Schusswaffeneinsatz, besonders in Bayern, im Anschluss nachuntersucht wird. Mittlerweile räumt sie auch ein, daß ein tweet wohl die falsche Form ist. Ausserdem meine ich, daß, wer das Vorgehen der Polizei kritisiert, eine Alternative nennen müsste. Wie ich oben gezeigt habe, ist der hier oft genannte Taser keine.

Der shitstorm, der daraufhin über Frau Künast hereinbrach, und der mit sicherlich berechtigter Kritik nichts mehr zu tun hat, zeigt aus meiner Sicht, wie dünn die zivilisatorische Decke mittlerweile auch in unserem Land ist. Das ging vom Aufblähen, wie durch BILD, über Unterstellungen,

Bildnachweis: Screenshot des Artikels auf meedia.

"Mißtrauensvotum gegen die Polizei" (wofür gleich "die Grünen" haftbar gemacht wurden, oder "Eröffnung eines Nebenkriegsschauplatzes" (das entsprechende Blog des ehemaligen katholischen Theologen David Berger, den  ich mal sehr geschätzt habe, beruft sich auf die Philosophia Perennis ...),

Bildnachweis:

1. Screenshot aus dem Blog von David Berger

2. Screenshot aus dem Twitter-Account von Renate Künast

 

Mißbrauch blebt Mißbrauch

Freundlich gesagt, war der tweet von Künast eine unbedachte Äusserung, unfreundlich: Mißbrauch. Doch für "das Netz" eine Steilvorlage, das auszukübeln, was man den bösen, grünen Gutmenschen. schon immer mal wieder sagen wollte

Von frauenfeindlich wie der Grumpy-Hund und Herr Kaltenbach,  bis verschwörungs- theoretisch wie Herr Lengsfeld - der Shitstorm hat alles, und auf dem Twitter-Account von Frau Künast darf jeder mal. Doch mißbraucht wurde die Geschichte auch von anderen, so z.B. von CSU-Sekretär Scheuer, und, oben schon angesprochen von Homosexuellen-Aktivist David Berger:

Nebenstehendes wird auf seinem Blog zustimmend zitiert, und da darf dann auch Broder nicht fehlen: "Muslime = Nazis". Zunächst ist Berger ja mit seinem Ansatz, daß pakistanische Flüchtlingslager ein wichtiges Rekrutierungsfeld der Taliban waren, auf dem richtigen Weg, aber dann:

 

"Der islamistische Terror habe mit dem Islam nichts zu tun, war eine ganze Zeit lang das Mindestmaß an Islamapologetik, das man aufbringen musste, um sich in der Migrationsdebatte überhaupt zu Wort melden zu dürfen – ohne nicht sofort mit den Totschlagworten „rechtspopulistisch“ oder „islamophob“ mundtot gemacht zu werden. Inzwischen wir es immer schwieriger, das noch aufrecht zu erhalten: Kein Terrorakt, bei dem Allahs Krieger nicht dessen Namen anrufen. Allahu Akbar sind meist die letzten Worte, die die Opfer zu hören bekommen."

Und ja, Allahu akbar...

Bildnachweis:

1. Screenshot aus dem Twitter-Account von Renate Künast

2. Screenshots aus dem Blog von David Berger

Ein geschlossenes WELTbild: Nizza=Würzburg=Istanbul: Alles Muslime, alles Terroristen, oder so...

Keinesfalls, wie hier suggeriert, ein Kampfruf, allerdings muß man einräumen, daß der Ausruf von Terroristen so lange als Kampfruf mißbraucht wurde, bis alleine diese Konnotation übrig blieb. Das ist allerdings nicht seine einzige Bedeutung und bei einem gelernten Theologen und Anhänger der Philosophia Perennis (zu der sich übrigens auch muslimische Denker bekennen; gehe ich davon aus, daß er das weiß. Broder - oder war es die Bildredaktion der Welt? - sortiert auch gleich die Anhänger von Erdogan unter die "Terroristen" ein. (s.o.) Zu Broder muß man nichts mehr sagen...

Hat man  schon bei Berger und Broder den Eindruck, daß sie jeden Flüchtling ausnahmslos für einen Terroristen halten, eine angebliche Tatsache, über die die Menschen in Deutschland "nicht mehr offen zu reden wagen", so kann CSU-Generalsekretär Markus Scheuer die Steilvorlage auch nicht liegen lassen und nutzt sie gleich zum Wahlkampf. "Der afghanische Axtangriff" - sind Axtangriffe der afghanischen Gesellschaft essenziell? Ich frage ja bloß. Oder ist es nicht so, daß die Sowjets eine funktionierende, westlich orientierte afghanische Gesellschaft vernichtet und die Amerikaner auf deren Trümmern den islamistischen Terror gezüchtet haben? Um Opferschutz oder Dank an die Polizei geht es nicht. Und die Denunziation der Grünen als Verfassungsfeinde lässt einen einfach nur schaudern.

Bildnachweis: fb-Seite von Andreas Scheuer

All das nur graduell von dem entfernt, was der AfD dazu eingefallen ist, Kapitän Schwandt hat es bereits entsprechend kommentiert.

 

Gab es denn keine andere Möglichkeit, als ihn zu erschießen?

In der Situation? Aus meiner Sicht: nein! Und die Diskussion am Verhalten des/der Beamten aufzuhängen, ist absolut inakzeptabel, sei es, daß man das verurteilt, sei es, daß man das gutheißt, denn darum geht es nicht. sondern es geht um die Frage: wollen wir das sicher bestehende Risiko der Radikalisierung in Kauf nehmen? Kann man da nicht vorher präventiv etwas tun?

Zunächst einmal: die vollkommen aufgeheizte Diskussion wieder einfangen, an der sich die Medien seit letzten September fleissig beteiligen. An der jetzigen Atmosphäre kommt ihnen ein großer Anteil Schuld zu.

Es hat noch jemand die Frage gestellt, ob es denn keine andere Möglichkeit gegeben habe. Die Verlegerin Simone Barrientos, die in Ochsenfurt junge Flüchtlinge betreut und den Attentäter kannte. Simone Barrientos ist genauso ratlos, wie wir alle, und stellt - vordergründig die gleiche Frage, ich habe jedoch aus dem gesamten Clip, den ich in der Tagesschau gesehen habe, den Eindruck, daß sie etwas Anderes meinte: eine Intensivierung der Prävention, dieses Mal auf den Einzelfall bezogen. Es war in den  (sozialen) Medien viel die Rede von einer auf den Einzelfall bezogenen Prävention. Ich denke jedoch, wenn man versucht, dem mit Begriffen von Radikalisierung beizukommen, gelingt das nicht. Ich glaube nicht an eine Turbo-Radikalisierung (Ahmad Mansour auch nicht), nach meiner Vermutung war der Attentäter schon vorher traumatisiert und der Tod seines Freundes hat die Traumatisierung wieder aktiviert. Leute, die in den sozialen Medien darüber nachgedacht haben, sahen sich sofort ebenfalls heftigen Reaktionen gegenüber. Ich denke aber, das Risiko kann nur durch eine zweigleisige Strategie minimiert werden: erstens. Optimierung der Sicherheitsmaßnahmen und, ja, weiter gute Ausbildung der Polizist*innen für Extremsituationen (selbst Künast hat in der Maischberger-Sendung eingeräumt, daß die, besonders in Bayern gut ist). Und dann sollten wir die Integrationsbemühungen verdichten und die Menschen mit ihren Geschichten besser zu respektieren, ihnen selber auf Augenhöhe zu begegnen, und nicht versuchen, Ihnen "unsere Werte" mit der Brechstange aufzudrücken, zumal es in der letzten Zeit doch am Bestand dieser Werte erhebliche Zweifel gab.

 

Postscriptum:

Während ich diesen Artikel fertigstelle, läuft noch der Anti-Terroreinsatz in München. Bis zu drei Täter haben offenbar in München in einem Einkaufszentrum einen Terroranschlag durchgeführt und sind jetzt auf der Flucht. Alles weitere ist Spekulation. Unsere Gedanken und Gebete müssen bei den Opfern (mittlerweile gelten sechs als gesichert). Ich hoffe sehr, diese Tragödie wird nicht für Tweets, Wahlkampf oder Ähnliches mißbraucht.