Nachbetrachtung: AfD-Parteitag, Kalkar-Demo, #Lügenpresse

Ich halte es für einen Skandal, wie seit ca. 2 Jahren über die AfD berichtet wird. Nicht DASS über sie berichtet wird, sondern WIE über sie berichtet wird! Als wäre sie eine ganz normale Partei. Sie sei ja schließlich nicht verboten - stimmt: aber das ist die NPD auch nicht. Ein Mittel, politische Proteste zu delegitimieren, ist immer, den Protestierenden in ihrer Gesamtheit "Gewalt" zu unterstellen. Das war schon 1977 in Kalkar so - an das Getöse der Leitmedien erinnere ich mich noch sehr gut - und das wird jetzt auch wieder von vielen  Medien und der AfD permanent genauso exerziert. So auch anlässlich des AfD-Parteitags.

Bildnachweis: Rheinische Post, (c) Gottfried Evers

 

Kalkar

Am 24. September 1977, mitten im Deutschen Herbst,fand die erste Großdemonstration gegen den "Schnellen Brüter" in Kalkar statt.

Der kontrovers diskutierte Wirtschaftsführer Hanns Martin Schleyer war von RAF-Terroristen am 5. September entführt worden (er wurde am 18. Oktober ermordet), und die Stimmung entsprechend aufgeheizt. Das dokumentieren Bilder von damals, von der Rheinischen Post dankenswerterweise noch einmal veröffentlicht, aus meiner Sicht seht gut.

Ich wohnte damals im damaligen Düsseldorfer Kreuzberg, Flingern-Nord, das mittlerweile anscheinend auch gentryfiziert ist, in einer Wohngemeinschaft und gehörte damals zur Düsseldorfer Vorbereitungsgruppe für die erste Großdemo. "Beruflich" - es waren Semesterferien - absolvierte ich zu der Zeit meine Famulatur bei einem Düsseldorfer Internisten. Da ich als einer der "Demo-Sanis" ausgeguckt war, zeigte der Doktor seine Solidarität, indem er meine "San-Tasche" bestückte. Zur Ersten Hilfe gegen Tränengaseinwirkungen gab er mir eine - sterilisierte -  Laborspritzflasche mit, die mit Aqua Destillata gefüllt und verklebt worden war. Diese Flasche sollte später noch eine Rolle spielen, deswegen auch das Foto.

Als wir uns in Düsseldorf zum Abmarsch an den gemieteten Bussen sammelten, wurden wir zunächst von der Polizei eingekesselt. Die Busfahrer entschieden alle, den Auftrag zurückzugeben und entfernten sich. Der Schwarze Block fing an, zu pöbeln, was von

"Euch wird es genauso ergehen wie Schleyer, der wird nämlich platt gemacht",bis "

die Laternen für Euch sind schon reserviert" .Die Polizisten scharrten mit den Hufen, aber es wurde aus den eigenen Reihen deeskaliert und wir konnten auch verhindern, daß Steine auf die Polizisten flogen. Wir wollten ja nach Kalkar und irgendwann wurde der Kessel aufgemacht und man ließ uns ziehen.

Für die Fahrt nach Kalkar, einer Fahrstrecke von 83 km, brauchten wir fast 7 Stunden, da wir gefühlt jeden Kilometer durch eine Polizeikontrolle aufgehalten wurden. Das war manchmal ganz lustig: an einem Checkpoint wurden wir gefragt, wo wir hinwollten. Die Verzierung unserer Autos ließ daran eigentlich keinen Zweifel, doch bitte:

"Evangelische Akademie Loccum."- "Und was machen Sie da?" - "Wir besuchen ein Seminar: zunehmende Brutalisierung der Polizei." 

Fanden die Polizisten zwar garnicht witzig, aber man ließ uns ziehen. Die letzte Kontrolle von gefühlt drölf Dutzend war unmittelbar vor Kalkar. Die war dann nicht mehr lustig, man stürzte sich auf meine Laborflasche: 

"Sieh an, ein Molli..." - "Nein, das ist eine Laborspritzflasche." - "Und was spritzen Sie damit? Säure? Auf die Polizisten?" - "Nein, das ist Aquadest, damit spült man Tränengas aus den Aufen." - "Aqua was? Also damit spritzen Sie dann den Polizisten in die Augen, oder was?" - "Bitte, das ist Wasser." - "Wieso? Sie haben doch gerade eben selber zugegeben, daß es Säure ist, zum in die Augen spritzen...".

Dann schritten sie zur hoheitlichen Handlung, nahmen meine Personalien auf und mir die Flasche ab. Protokolliert wurde, man habe mir eine "nicht näher bezeichnete Demonstrations-Offensiv-Waffe" abgenommen.

 

Ich greife mal kurz vor

Später berichtete die Presse, man habe eine immense Menge an Demonstrationswaffen eingesammelt und die Tagesschau zeigte lange Tapeziertische mit allem möglichen Gerümpel. Zwei Wochen später klingelte es Sonntagmorgens um sechs an unserer Türe, zwei freundliche Herren fragten, ob ich Dagmar Schulze sei, Studentin der Medizin und Philosophie, ich berichtigte Namen und Fächerkombination und als die Herren fragten, ob sie mal reinkommen und sich umsehen dürften, schließlich sei ich bewaffnet zur Kalkar-Demo erschienen. Aus den Augenwinkeln sah ich gerade noch, daß drei meiner Mitbewohner, die eigentlich von einer Party kamen, auf dem Absatz umdrehten. Schon klar, daß ich die Herren nicht hätte hereinlassen müssen, aber weiß man, ob sie nicht kurze Zeit später mit der Kavallerie wiedergekommen wären? Wie gesagt, sie durften sich umsehen. Sie fanden es anscheinend irgenwie nicht erfreulich. Nun ja, wir hatten schon länger weder aufgeräumt, noch sauber gemacht, und irgendwie hatte ich den Eindruck, sie fanden das eklig. Anschließend setzten sie sich, um mir noch ein paar Fragen zu stellen, die angebotene Tasse Nescafé lehnten sie allerdings ab, obwohl ich extra wegen ihnen zwei Tassen hatte spülen wollen.

Noch ein paar kurze Fragen, ob ich bei der Entführung von Schleyer geholfen hätte, wie ich zur RAF stünde - eine Schulfreundin von mir hatte unter dem Namen "Jutta" in der Peripherie dazugehört und war eine der ersten Aussteiger*innen gewesen - ja, wie ich denn ganz allgemein zu Gewalt stünde. 

Mit meinen Antworten waren die Herren zufrieden. Sie zogen ab und ich hörte nichts mehr von dem Besuch. Mir verlieh die Geschichte in der Düsseldorfer Sponti-Szene damals einen gewissen Heldenstatus und in unserer Stammkneipe "Grüner Mond" wurde mir so mancher Ingwerschnaps - damals mein Lieblingsgetränk - drauf ausgegeben.

 

Die Presse

Ich erinnere mich noch sehr gut an das, wie damals die Medien den Spin von den gewaltbereiten Chaoten drehten, die das friedliche Kalkar zu überrennen gedenke, und vor denen die braven Kalkarer Bürger Angst hätten. Verbildlicht wurde das nach meiner Erinnerung besonders eindrucksvoll durch die Tagesschau: zugenagelte Fenster, weil die Kalkarer Angst vor uns hätten. Unterstrichen wurde das mit Kalkarern, die wie gewünscht, angaben, vor der Demonstration Angst zu haben. Ich habe von damals kein Video mehr gefunden, das Video über die zweite Demonstration ist nur noch ein schwacher Abglanz der Medienberichterstattung des Deutschen Herbstes 1977. Auch 1985 mochte man auf eine ausführliche Berichterstattung über die "Chaoten" nicht verzichten. In der - differezierten - 1985er Berichterstattung nahmen die "Chaoten" nur noch einen Teil aus. Zwar einen größeren Teil, als es der Bedeutung entsprach, aber das unterschied sich von 1977: damals auch damals hatten die größere Bedeutung - aber bekamen nur einen Teil der der Berichterstattung.

In Kalkar standen die Kalkarer dann mit Getränken und Broten am Straßenrand: ja, man es hätten Leute die Fenster zugenagelt, ja, man habe Angst, aber davor, daß die Polizei übertreibe - wie martialisch die Polizei auflief, sieht man an den eingangs verlinkten Bildern.

 

Und 2017

Es hat die böse Antifa eine vereinzelte Latte geworfen (die Antifa hieß früher "Chaoten", s.o,) und das nahm einen wesentlich größeren Raum ein, als die insgesamt friedliche und bunte Demonstration wurde nur am Rande gestreift.

Man spürt bei manchen die Enttäuschung, das da nicht mehr war, als jene böse Latte, und daß da keine Gewalt "übergekocht" ist.

 

Am Vorgehen der Presse hat sich seit 1977 nicht viel geändert und heute wird das, was die Presse anbuchstabiert, wird heute in den Sozialen Medien ausbuchstabiert. Und genau wie die Medien damls für zumindest einen Teil der angspannten Atmosphäre verantwortlich war, verantwortet sie heute die Wahrnehmung der AfD als Partei wie andere auch. Über den Vertrauensverlust muss man sich nicht wundern. Der ist jahrzehntelang erarbeitet.