Corona im Kopf - Hack 02, Triage und das Recht auf Leben

Mir dürfte es so gehen, wie vielen von Euch: es prasselt so viel auf einen ein, daß es schon sehr viel Zeit, Energie und Kraft kostet, Informationen, Eindrücke und Desinformationen zu sammeln und zu verarbeiten, dabei in der eigenen Mitte zu bleiben und seinen Alltag weiterzuleben. Das ist, wenn man von allen Seiten sozusagen umspült wird, garnicht so einfach. 
Ich habe den Eindruck, daß sich wirklich, wie es so schön heisst, in der Krise der Charakter zeigt. Viele werden kreativ, einige haben schon in den (Verteilungs-)Kampfmodus geschaltet, einige werden gierig: Krise, griech: 
Κρίση heisst übersetzt: Entscheidung.

Aus gegebenem Anlass erzähle ich Euch jetzt mal was über "Triage", denn dieser Begriff geistert jetzt nicht nur durch die Sozialen, sondern auch durch die klassischen Medien. Ich finde ihn im aktuellen Zusammenhang katastrophal falsch, und ich werde auch erklären, warum. Eines vorweg: er könnte der "Sortierung" in "Benötigte" und "Entbehrliche" dienen, in wertvolles und lebensunwertes Leben.

Bildnachweis: Eigenes Archiv, Unterrichtsfolie

Ein Hack, hier definiert für die Computerwelt, bedeutet im übertragenen Sinne: ein kurzer Gedankeneinwurf. Das werde ich hier zum Thema "Triage" und in Folge auch für andere Themen versuchen und dabei Information und Meinung sauber auseinanderhalten. Mein Ziel ist, anderen die Angst zu nehmen. Angst habe ich auch, aber es hilft ja nichts. Wir müssen da durch und wir schaffen das auch.

 

Begriffserklärung:

Wie gesagt, der Begriff kommt aus der Militärmedizin: wen schafft man noch vom Gefechtsfeld weg, wer muss eilends versorgt werden, und somit in eine frontnahe Einrichtung gebracht werden, wer kann, versorgt mit vorläufigen Maßnahmen, weiter weg transportiert werden, wer hat keine Überlebenschance mehr. Als Richtzeit pro Patient gilt ein Zeitabschnitt von 20 bis 60 Sekunden. Das heisst in praxi: Laufschritt. Aber heute wird er auch bei zivilen Katastrophen und im klinischen Alltag verwandt.

 

Die Verletzten werden mit einem Farbcode gekennzeichnet: 

  • ROT:    Behandlung duldet keinen Aufschub,
  • GELB:  Stabil. Abtransport,
  • GRÜN: z.Zt. keine Behandlungsnotwendigkeit, man muss allerdings aufpassen, dass die so gekennzeichneten nicht planlos durch die Gegend laufen, und einen Schadstoff weiterverbreiten.
  • BLAU:  abwartende, ggf palliative Behandlung
  • SCHWARZ: tot.

Die Zuordnung muss für jede Situation angepasst definiert werden, hier sind z.B. die Definitionen für Verbrennungen:

 

Auch das ist eine alte Unterrichtsfolie von mir. KOF=Körperoberfläche, Perineum=Damm, Inhalationstraume: Verbrennung der inneren Oberfläche der Lungenbläschen. Wie zu sehen ist, fehlt hier das "Blau", d.h., die Definition schon der Farben ist nicht einheitlich, sie ist auch von Land zu Land verschieden und muss bei multi- oder transnationaler Zusammenarbeit vorher besprochen und ggf geübt werden.

Bei einem Massenanfall von Verletzten, MANV, führt der Leitende Notarzt, LNA, zusammen mit einem Notfallsanitäter*In diese Triage durch, wenn jemand gefunden wird, der/die unmittelbar versorgt werden muss.

 

Kritik der Militarisierung

Die Triage wurde entwickelt für die Anwendung in Gefechtssituationen, bei denen die Zeit eine wichtige Rolle spielt.

 

Wie in den Sozialen und klassischen Medien bereits ausgeführt, findet dieses Verfahren bei knappen materiellen Ressourcen Anwendung, und da, wenn man Menschen die Farbe "Blau" zuordnet, muss es zwar zügig, aber kann es keinesfalls "im Laufschritt" gehen. Die Vorstellung, daß es, wie im Krieg, zack-zack, gehen muss, macht Angst, zumal sich einige Staatenlenker, beachtet man allein ihre Sprache, schon im "Feldherrenmodus" (Oliver Welke, heute-show) zu befinden scheinen). Das "zack-zack" könnte sich als berechtigt verfestigen.
Wohlgemerkt: der Begriff "Triage" ist heute nicht nur militärisch, sondern z.B. bei einem Massenanfall von Verletzten oder im Krankenhausalltag nicht unüblich - allerdings habe ich ihn z.B. bei der Ausbildung und den Übungen zum Leitenden Notarzt und in 20 Jahren nie gehört, es sei denn in der Notfallambulanz als "Manchester-Triage", Einstufung der Dringlichkeit der wartenden Patienten. Im angloamerikanischen Sprachraum wird er häufiger verwendet, im Deutschen ist er meistens den Katastrophenlagen vorbehalten. Aber wie gesagt, was mich stört ist die Militarisierung des Begriffs in der jetzigen Debatte.

 

Kritik der Popularisierung

 In Talkshows wird das Thema, "wer kriegt denn nun das Beatmungsgerät" bereits auch durch Mitglieder des Ethikrats verhandelt - aber nicht nur bei Markus Lanz wird darüber geschwätzt. ja, geschwätzt.  Die Debatte muss geführt werden, aber nicht von jedem, nicht in den (Sozialen) Medien, sondern zwischen Fachleuten und Betroffenen, d.h, "Behinderten" und "Alten" und nur marginal mit denen, die bereits jetzt um ihre angeblichen Grundrechte barmen und denen es doch letztendlich nur um eines geht: die schnellstmögliche Lockerung der Einschränkung, die ihnen unbequem sind. Und dazu werden, z.b. in den Sozialen Medien, unbasierte und faktenarme Gespensterdebatten geführt, wie diese hier.

Download
Entscheidungsfindung bei nicht-ausreichenden Intensiv-Ressourcen
Gibt die Kriterien an, wie bei nicht ausreichenden Intensivkapazitäten der Zugeng zu knappen Ressourcen geregelt wird.
COVID-19_Ethik_Abbildung.pdf
Adobe Acrobat Dokument 59.7 KB

Die Entscheidung muss übrigens dokumentiert werden. Interessant ist, daß hier anstatt "Triage" der Begriff "Priorisierung" verwandt wird. 

Download
Dokumentationshilfe_Priorisierung.pdf
Adobe Acrobat Dokument 24.6 KB

 

Die zentralen Kriterien

Die zur Entscheidungsfindung herangezogenen Kriterien sind:

  1. Schweregrad und SOFA-Score,
  2. Komorbiditäten
  3. ggf. prognostische Marker
  4. Allgemeiner Gesundheitsstatus

zu 1.: das ist nachvollziehbar. Der Schweregrad ist in der Tat mit dem sog. SOFA-Score bestimmbar. SOFA, Sepsis-related organ failure assessment score, also Maßzahl für die Bestimmung des Organversagens bei Sepsis wurde für die Beurteilung septischer Zustände entwickelt, wird jetzt auch bei anderen Krankheits- zuständen herangezogen. Er beurteilt das Ausmaß des Versagens von sechs Organsystemen, ab 11 Punkten oder mehr gilt die Prognose als schlecht. Punkt 3 dürfte erkrankungsspezifisch sein und ist meines Wissens noch nicht festgelegt, es gibt aber erste Studien darüber. 

zu 2.: die "Komorbiditäten" dürften nicht nur Behinderten Sorge bereiten, von denen nicht wenige "weit fortgeschrittene neurologische Erkrankungen" haben. Eine gute Freundin und Kollegin von mir, genauso alt wie ich, ist wegen einer multiplen Sklerose auf einen Rollator angewiesen, eine andere Freundin wegen einer Hüftgelenksarthrose (sie hat Angst vor einer Op - aber das hat sich jetzt sowieso ja erstmal erledigt, genau wie meine ausstehende Knie- und Schulter-OP). Mehrere meiner Freund*innen sind Diabetiker.

zu 4.: Was nicht nur mir besonders übel reinläuft, ist der sog. "Gebrechlichkeitsindey" die "Clinical Frailty Scala", eingentlich in Deutschland bislang als Hilfe für Hausärzte eingesetzt, die damit den Bedarf an z.B. pflegerischer Unterstützung bzw. die Sinnhaftigkeit invasiver medizinischer Maßnahmen einzuschätzen, kann sich in so einer Situation gegen Alte und/oder Behinderte wenden.

Download
Ausführliche Erklärung der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie
In GB, wo ja auch nach dem 65sten Lebensjahr keine Gelenkprothesen mehr eingesetzt werden - es sei denn, man ist Queen Mum,wurde der Frailty Score herangezogen, um Panteint*innen definitiv von einer Behandlung auszuschließen. Nationale Behinderten Verbände protestieren jedoch erfolgreich dagegen.
200331_DGG_Plakat_A4_Clinical_Frailty_Sc
Adobe Acrobat Dokument 217.3 KB

 

Wieder mal ein Ablenkungsdiskurs

Deutschland ist zwar im internationalen Vergleich mit Intensivbetten gut aufgestellt, ich zitiere:

Auch ohne die derzeitige Aufstockung der Zahl der Intensivbetten ist Deutschland im internationalen Vergleich bereits gut aufgestellt. Hierzulande kommen 33,9 Intensivbetten auf 100.000 Einwohner, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Auch Österreich mit 28,9 Intensivbetten je 100.000 Einwohner und die Vereinigten Staaten mit 25,8 Intensivbetten je 100.000 Einwohner weisen demnach eine vergleichsweise hohe Dichte auf.

Deutlich geringer sind die Kapazitäten in den gegenwärtig besonders stark von der Corona-Pandemie betroffenen Staaten Spanien mit 9,7 und Italien mit 8,6 Intensivbetten je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Diese Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) stammen aus verschiedenen Erhebungen in zehn Mitgliedstaaten in den Jahren 2013 bis 2020.

Das sagt allerdings nichts über die Verteilung und Auslastung dieser Betten und da ist noch deutlich Luft nach oben. Während im Norden noch an die 10.000 Betten frei sind, wird es in Bayern und Baden-Württemberg bald eng. und noch holpert es. Es besteht ja nicht nur ein Bedarf an Intensivbetten, sondern auch an Transportmitteln, die entweder bereits zu Infektionstransporten umgerüstet werden sollten, oder wo das Procedere so geregelt ist, daß sie schnellstens umgerüstet werden könnten. Von der desolaten Lage für das medizinische Personal in Bezahlung, Ausrüstung und Absicherung ganz zu schweigen. Einer Freundin von mir, Krankenschwester auf einer Intensivstation wurde gesagt, daß die gesetzliche Unfallversicherung während einer Pandemie nicht greife. Nun, es hängt vom politischen Willen ab, ob für die "Alltagsheld*innen der Nachweis der Behandlung von Coronapatienten ausreicht.Vor der Ära der Hepatitisimpfung musste medizinisches Personal bei Erkrankung für die Anerkennung nichts mehr weiter beweisen. Bei den "Radarsoldaten" der Bundeswehr und NVA musste jeder Einzelne den Nachweis führen, daß er durch den Dienst an einer Radareinrichtung zu Schaden gekommen war.

Die Karte habe ich einer interaktiven Seite der Morgenpost entnommen, auf der jedeR die Situation in seiner/ihrer Stadt oder dem Landkreis sehen kann.Die Seite ändert sich lageabhängig. es lohnt sich also, sie öfters anzuklicken.


Das sind die aktuellen Zahlen - und gleichzeitig die Farblegende.

Ich denke, es ist unschwer zu erkennen, daß in Bayern, Baden-Württemberg und  NRW die meisten Komplettauslastungen und Engpässe zu verzeichnen haben.

Übrigens hat auch die Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften der Notärzte Deutschlands, BAND eine Leitlinie herausgebracht. Sie gilt zwar zunächst für den präklinischen Rettungsdienst, kann aber, was den Geist betrifft, sicherlich übertragen werden, zumal sehr viele der Notärzte auch intensivmedizinische Erfahrung haben. Dort steht an erster Stelle die Forderung nach überregionaler Disposition.
Aus meiner Sicht ist das Nadelöhr der Transport. Forderungen, das zu regeln, hat die DIVI bereits Ende letzten Monats erhoben. Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, daß Herr Spahn, von dem ja einige meinen, er könne auch Kanzlerin, das hinkriegt, wenn er keinen Druck bekommt. Von den (sozialen) Medien, von unseren talkshowaffinen Großdenkern und von den Politiker*innen aller Parteien. Aber stattdessen wird über ein Thema geschwätzt, von dem die meisten weder betroffen sind, noch Ahnung haben, oder einige Vorsänger*innen wie Christian Lindner, Armin Laschet oder die Vorsitzende einer bayrischen Filterblase, die sich als Partei hat eintragen lassen, machen Stimmung und das Volk stimmt ein! ich denke, es dürfte jetzt ein bißchen klarer sein, daß das Thema PriorisirungU/Triage sich weder zur Stimmungsmache, noch zur faktenfreien "Debatte" durch alle und jeden eignet. Vorausgesetzt natürlich, wir bleiben weiter stark und diszipliniert und lassen uns nichts vormachen. Da Kaltländer sind in der Minderheit, mögen sie auch noch so laut schreien.Auf das, was eine solche Gespensterdebatte mit behinderten Menschen macht, werde ich noch mal gesondert eingehen. Gottseidank sind die Entscheider*innen im Regelfall vernünftiger, menschlicher und den Grundrechten mehr verpflichtet als die Schreihäls*innen in den (Sozialen) Medien und ihre Vorsänger.